Pythagoras - wer war das?
Dass man Geistesgeschichte nicht nur trocken servieren muss, zeigen die beiden Taschenbuch-Bände von Luciano De Crescenzo: Geschichte der griechischen Philosophie (Diogenes 1990). Darin das Kapitel "Pythagoras Superstar".
Pythagoras, Sohn des Goldschmieds Mnesarchos, wurde 570 v. Chr. auf der Insel Samos, wenige Meilen von der Stadt Milet entfernt, geboren. Dank einer Empfehlung seines Onkels Zoïlos durchlief er die Grundschule bei dem großen Pherekydes, der ihm, wie Apollonios erzählt, vor allem einmal beibrachte, wie man Wunder macht. Nachdem Pherekydes gestorben war und Pythagoras sich in der Mathematik vervollkommnen wollte, wandte er sich klugerweise gleich an die berühmtesten Lehrmeister seiner Zeit, nämlich an die ägyptischen Priester. Er packte drei silberne Pokale aus dem Geschäft seines Vaters sowie ein Empfehlungsschreiben des Tyrannen Polykrates an den Pharaonen Amasis ein und fuhr mit dem nächsten Schiff ab. Nebenbei bemerkt, auch damals lief schon alles nur mit Schmiergeld und Empfehlungsschreiben!
Nachdem seine ägyptischen Lehrjahre beendet waren, vervollkommnete Pythagoras seine Ausbildung durch Reisen. Er wird in den Schriften erwähnt als Schüler der Chaldäer in Astronomie, der Phönizier in Logistik und Geometrie und der Magier in den mystischen Riten.
Aber kehren wir zu Pythagoras zurück. Nachdem er also seine Studien beendet hatte, zog er wieder in die Heimat und wurde Lehrer des Sohnes von Polykrates, des Tyrannen von Samos. Auf diesen Polykrates, der einer der größten Schurken des 6. Jahrhunderts war, möchte ich hier zwei Worte verschwenden. Er war nämlich nicht, was wir uns unter einem König vorstellen, sondern ein echter Pirat: mit seinen Schiffen überfiel er jeden, der es wagte, sich den ionischen Küsten zu nähern. In der Außenpolitik verbündete er sich stets mit den Schlimmsten, wechselte aber immer rechtzeitig die Fahne, wenn er merkte, dass der Wind drehte. Ein Charaktermensch eben. Auch an seinem Hofe ging es entsprechend zu, er praßte immer nur mit ein paar Intellektuellen wie Ibykos und Anakreon und hundert jungen Mädchen und anmutigen Knaben. Pythagoras, wie alle Weltverbesserer ein Moralist, gefiel dieses ausschweifende Leben natürlich nicht; so beschloß er im stolzen Alter von 40 Jahren, sich noch einmal einzuschiffen und nach Kroton an der italienischen Küste überzusetzen. Dort bot ihm die Ältestenversammlung an, der Jugend griechische Weisheit zu lehren, und er nutzte die Chance, eine Kaste von 300 Schülern aufzuziehen, mit deren Hilfe er allmählich alle Hebel der Macht in die Hand bekam.
Die Eingeweihten lebten in Gütergemeinschaft. Bei Sonnenuntergang mußten sie sich stets drei Fragen stellen: a) was habe ich Schlechtes getan, b) was habe ich Gutes getan, c) was habe ich versäumt zu tun? Danach mußten sie den folgenden Satz aussprechen: »Ich schwöre es auf Jenen, der unserer Seele die göttliche tetraktys offenbart hat.«
Pythagoras teilte seine Mitmenschen gewöhnlich in zwei Kategorien ein: die Mathematiker waren jene, die das Recht hatten, Wissen, mathematha, zu erwerben, während die Akusmatiker nur zuhören durften. Um zu verhindern, dass die beiden Gruppen sich vermischten, entwickelte er eine Sprache, die nur Eingeweihten verständlich war, nämlich Zahlencodes, Symbole und andere Teufeleien, die nur dazu dienten, die Macht der Information in Händen zu behalten. Genau gesehen hat Pythagoras die Freimaurerei erfunden, zumindest war er ein Vorläufer der Geheimbündler. Sein Orden, den wir PI nennen könnten, besaß bereits alle Kennzeichen einer Freimaurerloge: Geheimhaltung, Initiationsritus, den Großmeister, die gegenseitige Hilfe unter Brüdern, Symbole, Zirkel, Winkeldreiecke usw. Was die Geheimhaltung betraf, gab es keine Gnade für Gesetzesbrecher. Ein Schüler, ein gewisser Hippasos von Metapont, soll eines Tages vor aller Welt die Existenz der irrationalen Zahlen zugegeben haben, was den Einsturz der Zahlenharmonie bedeutete, auf der das ganze Theoriengebäude des Pythagoras beruhte; damit hatte sich der Verräter sein eigenes Grab gegraben. Vom Fluch des Meisters verfolgt, erlitt er wenige Meilen vor Kroton Schiffbruch, als er verzweifelt versuchte, übers Meer zu fliehen.
Abgesehen von den physikalischen Eigenschaften der Zahlen war Pythagoras besonders von der Beobachtung fasziniert, dass alle Naturerscheinungen von einer höheren Logik gesteuert scheinen. Vor allem die Entdeckung eines konstanten Verhältnisses zwischen der Länge der Saiten einer Leier und den Grundakkorden der Musik (1:2 für die Oktave, 2:3 für die Quint und 3:4 für die Quart) beeindruckte ihn so stark, dass er sich Gott als großartigen Ingenieur vorstellte und glaubte, ein mathematisches Gesetz, nämlich die Harmonie, bestimme die ganze Natur.
All diese verborgenen Wechselbeziehungen sowohl zwischen den Zahlen als auch bei den Naturphänomenen versetzten Pythagoras gewiß in wahre Freudentaumel. Wir können uns daher vorstellen, welche Enttäuschung es für unseren Philosophen bedeutete, als er eines Tages das Verhältnis zwischen der Diagonale und der Seite eines Quadrates berechnete und entdeckte, dass das Ergebnis keineswegs eine ganze oder eine Dezimalzahl ergab. Wie war das möglich? Wenn bisher alles den Gesetzen der Harmonie zu gehorchen schien, wie konnten da nun plötzlich so unverständliche Zahlen zum Vorschein kommen! Dabei hatte er doch in bezug auf die Diagonale selber entdeckt, dass das Quadrat über der Hypothenuse gleich der Summe der beiden Kathetenquadrate ist. [1] Und nun sträubte sich ausgerechnet diese Hypothenuse, sich durch eine ihrer Seiten teilen zu lassen! Die Entdeckung der irrationalen Zahlen war ein schwerer Schlag für die Pythagoreer: ihr ganzes Theoriengebäude brach zusammen. Und um das Unglück voll zu machen, erzählte einer der Schüler, der Verräter Hippasos, die Nachricht überall herum, nur um der Schule zu schaden.
Apollodor berichtete, daß Pythagoras den Göttern 100 Ochsen opferte,
als er sein berühmtes Theorem entdeckt hatte, und dies muß einen
bei einem Mann verwundern, der sich weigerte, Fleisch zu essen, um keine Tiere
töten zu müssen.
(Vgl. Diogenes Laertios, a.a.O., VIII 12)